Wir Menschen verbinden die Zunge vor allem mit unserem Geschmackssinn und dem Sprechen. Sie ist Träger der Geschmackssinneszellen, und ermöglicht uns das sehr differenzierte Formen von Lauten, die wir zur Kommunikation mit unseren Mitmenschen nutzen. Auch Hunde schmecken und kommunizieren mit der Zunge, aber das ist nur ein kleiner Teil dessen, was dieses erstaunlich vielseitige Organ leistet. Dieses Wunderwerk der Natur erfüllt mit seiner ausgeklügelten Anatomie eine Reihe weiterer lebenswichtiger Funktionen. Für uns Hundehalter ist die Zunge von großem Interesse. Die Beobachtung ihrer Form und Bewegungen liefert viele interessante Informationen über den Hund und sein Befinden in der aktuellen Situation. Grund genug, sich dieses Vielzweckorgan einmal genauer anzuschauen.
Die Zunge als Schöpfkelle.
Der Fang unserer Hunde ist anders gebaut als unser Mund, in den man große Mengen Flüssigkeit einfach hineingießen kann. Wenn Hunde Flüssigkeiten aufnehmen, vollführen sie dazu jedes Mal ein kleines Kunststück. In der Zeitlupe wird es deutlich: Sie erzeugen mit geschickten Zungenbewegungen kleine Wassersäulen, die sie dann aufschnappen und abschlucken.
Die Zunge als Kühlrippe.
Hunde haben im Gegensatz zu uns Menschen keine Schweißdrüsen, um bei hohen Temperaturen über eine feuchte Körperoberfläche für eine verbesserte Kühlung zu sorgen. Zum Teil haben sie ein sehr dichtes, wärmeisolierendes Fell und können kaum überschüssige Wärme an die Umgebungsluft abgeben. Die Kühlung des Körpers erfolgt bei ihnen fast ausschließlich über die Zunge und die Schleimhäute in Maul-/Rachenraum. Um diese begrenzten Möglichkeiten der Kühlung optimal zu nutzen, ist die Zunge des Hundes als Schwellkörper konzipiert. Bei Bedarf schwillt die Zunge zu erstaunlicher Größe an. Unter ihrer feuchten Oberfläche pulsiert dann in großen Mengen Blut, das durch die Verdunstung von Speichel sehr wirksam gekühlt wird. Um die Verdunstung zu unterstützen, hecheln die Hunde dann mehr oder weniger stark und sorgen so für die ständige Zufuhr von frischer, kühler Luft. Wenn entspannte oder erschöpfte Hunde etwas ins „Schwitzen“ kommen, ist ihre Zunge groß und schlaff, sie hängt dann oft seitlich aus dem Fang heraus.
Unter Anspannung wird die Zunge gerade aus dem Fang herausgestreckt. Am Ende ist sie dann oft löffelförmig verbreitert und an den Rändern aufgebogen. Diese Zungenform sehen wir in Kombination mit sehr schnellem Hecheln vor allem bei stärkerem Hitzestress. Aber auch unter psychischer Anspannung kann die erhöhte Körperspannung den Zungenmuskel erfassen. Die angespannte Zunge und der hochgebogene Zungenrand sind daher auch ein häufiges Symptom von Stress, der nicht unmittelbar durch hohe Außentemperaturen oder körperliche Belastung zustande kommt. Unter Stress kann die Zunge beim Hecheln aber auch in den Fang zurückgezogen sein. Wichtig ist in diesem Zusammenhang immer den ganzen Hund in der jeweiligen Situation zu sehen. Die Form der Zunge ist stets nur ein Detail in einem Gesamtbild, das stimmig zu deuten ist.
Die Zunge als Waschlappen.
Hunde sind nicht ganz so bedacht auf die Fellpflege, wie z.B. Katzen, aber auch sie setzen ihre Zunge ein, um empfindliche Körperstellen oder Wunden gründlich zu reinigen. Körperpflege ist biologisch betrachtet ein besonderes Verhalten. Es ist erfüllt einerseits sehr wichtige Funktionen, erbringt andererseits aber keine unmittelbar spürbaren Vorteile für das Tier. Dieser Energieaufwand ist eine Art Investition in eine gesunde Zukunft, lohnt sich aber eben erst sehr viel später, nicht unmittelbar. Die Natur hat es deshalb so eingerichtet, dass solches Verhalten selbstbelohnend ist. Das Belecken des eigenen Körpers hat eine beruhigende, entspannende Wirkung. Es fühlt sich für die Tiere gut und richtig an und wird deshalb regelmäßig ausgeführt. Die guten Gefühle, die diese Verhaltensweisen vermitteln, sind eine gute Erklärung für Zungenbewegungen, die wir in anderen Situationen beobachten.
Die Zunge als Signalflagge.
Unter Anspannung lecken sich Hunde häufig kurz über die Nase oder die Lippen, oft auch mehrmals nacheinander. Für diese Beobachtungen gibt es verschiedene Deutungen. Wenn diese Zungenbewegungen in der direkten Interaktion mit einem anderen Hund oder einem Menschen gezeigt werden, sind sie oft Bestandteil von sogenanntem Demutsverhalten. Der Hund signalisiert dann, seine Unterlegenheit und dass er im Falle von Interessenskonflikten nicht versuchen würde sich durchzusetzen. Diese Deutung macht Sinn, wenn auch die übrige Körpersprache auf Demutsverhalten hindeutet. Turid Rugaas, eine sehr einflussreiche Hundetrainerin, hat diese Zungenbewegungen als Beschwichtigungssignale bezeichnet. Diese Deutung beinhaltet die Annahme, dass der Hund friedfertig gestimmt ist und dieses Verhalten zeigt, um offene Konflikte zu vermeiden. In vielen Situationen sehen wir neben den Zungenbewegungen weitere Details in der Körpersprache, die deeskalierend wirken können und dann passt diese Deutung sehr gut.
Angespannte Hunde lecken sich andererseits auch häufig über Nase und Fang, wenn gar keine Adressaten für Signale zu sehen sind. In diesen Fällen passt die Deutung als Demuts- oder Beschwichtigungssignal nicht so gut. Unser Wissen um die beruhigende Wirkung von Leckbewegungen legt hier eine andere Interpretation nahe: Die Zunge wird in angespannten Situationen zur Selbstberuhigung eingesetzt. Der Organismus nutzt die Begleiterscheinungen von Zungenbewegungen, um das Erregungsniveau etwas herunterzuregulieren. Diese Deutung ergibt auch in der Interaktion mit Artgenossen oder Menschen häufig Sinn.
Was diese drei Interpretationsmöglichkeiten gemeinsam haben, ist, dass der Hund sich in einer angespannten Lage befindet. Ob die Zungenbewegungen ein äußerlich sichtbares Zeichen von Selbstregulation sind, der Hund einen Interaktionspartner beschwichtigen möchte oder sogar Demut signalisiert, sollten wir nicht allein am „Züngeln“ festmachen. Welche der Deutungen wahrscheinlich zutrifft, ergibt sich aus der Situation, der übrigen Körpersprache und zusätzlichem Wissen über den individuellen Hund. Besonders wichtig ist die Abgrenzung gegen einen weiteren Grund für Zungenbewegungen: Wenn Hunde Futter erwarten, läuft ihnen buchstäblich das Wasser im Munde zusammen. Futtererwartung löst Speichelfluss aus und in diesem Zusammenhang lecken sich Hunde ausgiebig über Nase und Lefzen. Hier sind wir bei einer weiteren Funktion der Hundezunge angekommen:
Die Zunge als Vorkoster.
Hunde haben keinen Geschmack? Von wegen!
Anatomische Untersuchungen haben ergeben, dass Hunde im Vergleich zu uns Menschen deutlich weniger Geschmacksknospen auf der Zunge haben. Auf den ersten Blick scheint der Geschmackssinn für Hunde also eine weniger bedeutende Rolle zu spielen. So mancher Fertigfutterproduzent möchte uns Kunden daher weis machen, dass es völlig ok ist, wenn der Hund Tag für Tag dasselbe Futter bekommt. Netter Versuch, aber die meisten von uns wissen es besser. Wer schon mal versucht hat, sein Lieblingsessen mit verstopfter Nase zu genießen, weiß das sehr genau:
Was wir als Geschmack wahrnehmen ist eine Kombination aus Geschmack und Geruch. Und natürlich haben Hunde Leibgerichte! Ihre Zungen mögen in diesem Punkt vielleicht weniger leisten als unsere, aber ihre Nase ganz sicher nicht.
Autor: Gerrit Stephan
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